AUS DEM HEUTE IN EINE FERNE ZEIT
Ein Brief von Yildiz Çakar
An mein künftiges Ich,
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Großeltern, Tanten, Onkel, Eltern und nun ich– wie sie werde auch ich altern und sterben. Es ist wie ein kurzer Filmstreifen, denn im Rückblick reicht das, was dazwischen liegt, nicht einmal für einen längeren Film.
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In meiner Kindheit in Kurdistan habe ich bei fast allen älteren Menschen, die ich kannte, immer wieder das Gleiche beobachtet, gehört und empfunden. Ihre Gesichtszüge waren fast alle gleich. Ihre Gesichter waren nun aber nicht mehr von den Sorgen und der Zukunftsangst geprägt, denen sie ihr ganzes Leben lang ausgeliefert waren. Einzig Zorn, Klage und Reue und vielfaches Leid sprachen aus ihren Gesichtern. Wenn sie allein waren, lösten sich aus ihren Zungen schmerzvolle Melodien oder ein Wimmern mit klagenden "achs" tief aus ihrer Brust, ohne dass sie den Mund auch nur öffneten. Manche Träne vergossen sie dabei, doch waren die Quellen ihrer Tränen längst versiegt und die Augen so trocken wie ihre vernarbten Wunden.
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Schau, wie die Jahre vergangen sind und wie auch das Kind, das sich ewig Kind wähnte, immer älter wurde. Nun bin ich wie sie; schlimm diese Wiederholung. Ich tue und empfinde das Gleiche. Es scheint eine schmerzvolle Kausalitätsbeziehung zu geben….
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1915, 1945, 1990, 2020, 2030 - was hat sich geändert auf dieser Welt? Innerhalb meiner Familie folgte Generation auf Generation, die Lebensbedingungen auf der Welt änderten sich, die Technologien waren andere; wir hatten anderes Essen, andere Kleidung und andere Spielzeuge, dennoch haben wir immer das Gleiche erlebt. Die Großeltern haben nicht nur den Ersten Weltkrieg und nach dem Massaker der Russen im Kaukasus den Schmerz der von dort geflohenen Menschen bezeugt, sondern auch den Genozid des Osmanischen Reichs an Armeniern. Sie wuchsen mit den bitteren Geschichten über jene Kinder auf, die ihren armen Familien entrissen wurden und im Dienste des imperialistischen Traums türkischer Nationalisten bis nach Jemen und in die arabische Wüste verschleppt wurden und nicht zurückkamen.
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Die nachfolgende Generation hatte unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs nur trockenes Brot zum Essen und wuchs unter dem Joch des neuen türkischen Regimes auf. Das kurdische Volk, dessen Sprachen und Kulturen verboten waren, lebte in einem geographischen Gebiet, in dem es zwar Gerichte gab, für Kurden war dieses Gebiet jedoch ein rechtsfreier Raum. Es war ein Volk ohne eigenen Boden, ohne Gleichheit, ohne Gerechtigkeit, das unter den Repressionen der Regierung litt und wegen alltäglicher Konflikte aufeinandergehetzt wurde.
Als wäre so viel Gewalt nicht genug, wurde unsere Kindheit mit Militärputschen und zusätzlichen schmerzvollen Bürden belastet, während die Auflehnung der Kurden gegen das Verbot ihrer Muttersprache in ein Weltuntergangsszenario umgeschrieben wurde. Tief in der Nacht oder in aller Frühe wurden wir aus dem Schlaf gerissen, wenn bei Wohnungsrazzien in der Nachbarschaft Polizisten unter Gebrüll Türen zertrümmerten. Tausende Dörfer - manches Mal gar samt Anwohner - wurden niedergebrannt. Unter dieser Repression erzitterten unentwegt die Herzen der Kinder.
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Die Kurden auf der anderen Seite der Grenzlinie, die Kurdistan teilte, wurden mit chemischen Waffen getötet. Frauen, Kinder, Männer, alte Menschen: Tausende fielen von dem eingeatmeten Apfelduft der unsichtbaren Waffe leblos zu Boden. Hunderttausende wurden während der Bombardements getötet, Frauen wurden entführt und an arabische Scheichs verkauft. Wer überlebte, rettete sich in die Berge.
Während dieses brutalen Konflikts, der aus Habgier und mit dem Bestreben geführt wurde, sich des Nachbarn Brot einzuverleiben, gab es auch jene, die sich bereicherten, indem sie Waffen lieferten. Kurz, bis auf die Unterdrückten nährten sich alle vom schmutzigen Brot.
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Aber sah es in anderen Teilen der Welt besser aus? Nein. Was hat sich der Mensch nicht alles eingebrockt mit seiner Unersättlichkeit und seinem Unvermögen, teilen zu lernen?
Ein Volk, das nahezu die halbe Erdkugel zwischen zwei Ozeanen beherrscht, schien unersättlich zu sein, weswegen es zuerst all seine Kraft darauf verwendete, das kleine Tschetschenien im Kaukasus zu unterjochen, um anschließend ein Land nach dem anderen anzugreifen.
Doch, war es das wert?
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War es wert, Nelson Mandela 27 Jahre ins Gefängnis zu sperren? War es wert, Kinder in Vietnam zu verbrennen? War es wert, Menschen so viel Leid zu zufügen, um über einen Fußbreit des Baskenlandes zu herrschen?
Hatten nicht die Propheten selbst vor Tausenden Jahren den Nationalismus verdammt? Doch hat nicht gerade die von ihnen verkündete Brüderlichkeit der Religionen die Konfessions- und Religionskriege herbeigeführt? Ein ethnischer Konflikt nach dem anderen, ein Religionskrieg nach dem anderen – nimmt das denn kein Ende? Oder suchen Menschen nur nach einem Grund, um das Ungeheuer, das sie in sich tragen, zu entlarven?
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Ich wünschte, ich könnte -wie alle- annehmen, dass ich altern und sterben werde, aber ich kann es nicht. Denn meine Freunde, die Kinder meines Volkes starben noch im Kindesalter. Erinnerst Du Dich: Ein kurdisches Kind wurde von türkischen Polizisten mit 13 Schüssen getötet. Es war erst 12 Jahre alt. Warum dieser Hass? Weißt Du es heute?
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Wenn du diese Zeilen liest, ist das alles viele Jahrzehnte her. Sag, hat es sich erfüllt? Leben die Kurden in einem unabhängigen Land? Sicher, ich kann mir denken, noch viele Kurden starben im Kampf gegen die Feinde der Menschlichkeit, die vom Norden und Süden über sie herfielen. Doch kam der Tag, da die Welt die Werte dieser im Kampf für Menschlichkeit gefallenen Menschen ehrte? Selbst wenn dem so gekommen ist, bin ich mir sicher, sie ehrte sie weniger um derentwillen als vielmehr um ihrer selbst willen. Aber ist es eingetroffen? Zeigt sich eines Tages die ganze Welt in einem Punkt einig: Werden sie die Kurden mit vereinten Kräften unterstützten und werden sie je der Ansicht sein, dass unser Volk genug Leid erduldet hat.
Werden sie - die Araber, die die Kurden früher als "Kafir"* bezeichnet, sie mit chemischen Waffen getötet und deren Kinder verkauft hatten, die Perser, die die Kurden an den Galgen gebracht hatten, wenn sie nach Freiheit riefen und die Türken, die die Kurden zuvor als Terroristen bezeichnet und ihre Dörfer und Städte niedergebrannt hatten - sie eines Tages als gute Nachbarn, als gastfreundliche, großzügige und mutige Menschen aus dem schönen Gebirgsland akzeptieren? Ihr Land Wiege der Zivilisation nennen? Werden sich allesamt einreihen, um ihnen alsbald einen Besuch abzustatten?
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Und wird es das wert gewesen sein?
Wird sich, wenn alles eines Tages so kommt, die ganze Welt in ein Paradies verwandelt haben, nur weil Kurdistan sich in ein Paradies verwandelt hat? Ich befürchte nicht. Das Böse im Menschen, der bekanntlich das Gute und das Böse in sich vereint, feiert seinen Siegeszug anderswo auf der Welt. Ist es nicht so?
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In Süd- und Mittelamerika werden sicher noch immer farbige Menschen getötet. Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung werden in ihrer unerbittlichsten Form weiterbestehen. Habe ich Recht? Staaten werden weiter zerfallen, aber auch die neu entstandenen Staaten werden die Repressionen gegen die eigenen Völker fortsetzen.
Ich befürchte, das Land mit 52,5 Bundesstaaten, wo 72 Nationalitäten in einer Stadt, im gleichen Viertel oder in der gleichen Straße zusammenlebten, das Land von Amazon, wird leider in sich zerfallen. Ich weiß nicht, wie viele Länder daraus entstanden sind, denn die Grenzen sind nicht immer klar auszumachen. Sag mir, ist es so gekommen: Werden Menschen sich nach Hautfarbe, nach Sprache, nach ihren Überzeugungen aufteilen. Wird jeder eine Waffe in der Hand, im Auto, im Haus haben? Werden Nachbarn aufeinander schießen? Sag mir, ist es so gekommen? Furchtbar!
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Die Menschheitsgeschichte wiederholt sich unentwegt. Was in all diesen Wiederholungen jedoch kein Ende nimmt, sind die Kriege. Meine Lebensgeschichte nahm einen schlimmen Anfang: Als ich geboren wurde, schrieben auch meine Leute eine grausame Geschichte.
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Werde ich als Angehörige eines Volkes aus dem Leben scheiden, das im Kampf für Würde und Menschlichkeit gesiegt hat? Ach, selbst wenn, das reicht nicht, damit ich mich glücklich fühlen kann. Die große Familie der Menschheit wird nie Frieden finden, wenn sie sich nicht auch der kleinsten Leiderfahrungen annimmt und diese als ihr eigenes Leid und ihren eigenen Schmerz ansieht.
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Einfühlsamkeit! Ja, Einfühlsamkeit ist der Schlüssel. Glaubst Du noch immer daran? Die Welt ist nicht sehr groß, doch klein ist sie auch nicht. Unser Sehen und Hören folgen nicht unserem Willen, aber unsere Gefühle können wir mit unserem Willen beeinflussen.
Einfühlsam sein und mitfühlen. Wache Menschen müssen ganz Aug und Ohr sein und die Wahrheit hinausschreien. Das Gute muss so wachsam sein wie das Böse.
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Vor allem die Kinder müssen wachsam sein. Sie müssen wissen, dass das Böse Böses und das Gute Gutes erstarken lässt. Sie müssen einander lieben. Die Liebe, das Gute und Schöne muss gedeihen. Man darf nicht vergessen, dass die Menschheit eine Familie und die Kulturen ein Garten voller Blumen sind. Du hast es nicht vergessen, nicht wahr? Behandeln wir alle, die wir kennen, wie jemanden, mit dem wir zusammen auf einer verlassenen Insel leben und der der einzige Mensch ist, auf den wir angewiesen sind. Ich glaube, dann wird diese Welt eine ganz andere werden.
Vielleicht ist es so gekommen? Haben wir es erreicht? Weißt du es, wenn Du das liest?