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IM GESPRÄCH

Yildiz. Oder soll ich besser Roja sagen?

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Eigentlich hat es etwas Komisches, mit zwei Namen zu leben. Das hat mich innerlich wie äußerlich in zwei unterschiedliche Persönlichkeiten verwandelt. Es ist schon seltsam, zu Hause Roj bzw. Rojan zu sein, während ich außerhalb mit einem Namen lebe, den mir ein System, das mich und meine Sprache nicht akzeptiert, aufgezwungen hat. Wenn Du mich fragst, welche von beiden ich eigentlich bin, dann bin ich natürlich Rojan.

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1995. Was verbindest Du mit diesem Jahr?

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1995 steht für mich für ein äußerst blutiges Jahr. Eine Zeitspanne, in der mir erstmals bewusst wurde, dass es Systeme, Mörder und Barbaren gibt, die uns unserer seit Jahrtausenden angestammten Erde, unserer Sprache entreißen wollen. Und es war zugleich ein Wendepunkt, der meine ganze Zukunft geformt, meine Geschichte verändert und den Rest meines vermeintlich gewöhnlichen Lebens in eine außerordentliche Bahn katapultiert hat. An einem Frühlingsmorgen, an dem sich Menschen beim Anblick der Sonne und der Blumen erfreuen, wurden meine Familie und ich von Unbekannten überfallen, die mit Messern und Beilen und "Allahu Akbar" rufend über uns hergefallen sind. Ich sah, wie unser Blut an den Wänden im Schlafzimmer hinunterlief. Ich sah das Blut auf dem Boden. Ich sah unsere Verzweiflung und wie meine kleinen Geschwister beim Anblick des Bluts und angesichts der Brutalität am ganzen Körper zitterten. Ich sah, wie unmenschlich uns der Arzt am OP-Tisch des Krankenhauses behandelte, in das wir mit blutenden Wunden gebracht wurden. Für mich war es eine äußerst blutige Zeit.

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Erzähl uns von der Nacht aus der Deine Narben stammen.

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An einem Frühlingstag drangen Personen in Zivil mit Waffen und Beilen bewaffnet in unser Haus im Zentrum von Diyarbakir ein, wo ich mit meiner Familie lebte. In diesen frühen Morgenstunden während meine jüngeren Geschwister und meine Eltern noch schliefen, geschah alles so schnell, dass ich mich am deutlichsten an die Blicke meiner beiden jüngeren Geschwister erinnere. Sie standen an die Wand gelehnt und starrten unsere blutüberströmten Körper an. Ich höre noch immer die Rufe der Angreifer: "Schlitzt ihnen den Hals auf! Tötet sie alle!". Wie durch ein Wunder, vielleicht auch durch unseren Widerstandswillen haben wir überlebt. Sie hatten mir circa an 22 Stellen Schnittwunden zugefügt. Drei Finger meiner linken Hand sind nicht mehr funktionstüchtig. Wegen der durchtrennten Nerven an meinem rechten Arm kann ich seit Jahren nur noch ein Wasserglas oder kleinere Gegenstände hochheben. Ich werde nie mehr das Leben eines gesunden Menschen führen können. Ich bin oft krank. Offen gesagt, möchte ich die Einzelheiten jenes blutigen Tages gerade nicht in Erinnerung rufen…



Sie sagen „Klopfe an irgendeine Tür und jeder wird Dir ein Opfer aus der Familie nennen können“. Was soll das zum Ausdruck bringen?

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An welche Tür Du in Kurdistan auch klopfst – alle haben eine Geschichte zu erzählen. Und es sind alles blutige Geschichten. Stell Dir vor: Eines schönen Morgens bricht das finstere Gesicht des Staates ihre Tür auf und fällt über Dich und Deine Familie her, um sie mit Messern niederzumetzeln. Und sie hinterlassen nichts als ein blutiges Leben in Deinem Heim, Deinem Dorf. Entweder, Du lässt alles hinter Dir und gehst fort oder Du stirbst, oder aber Du tust alles, was von Dir verlangt wird - wie ein entwürdigter Sklave. Um innerhalb des Systems zu leben und die gleichen Rechte wie alle anderen beanspruchen zu können, musst Du zunächst auf Deine Muttersprache verzichten. Das bedeutet, dass nachwachsende Generationen nicht mit ihren Großeltern kommunizieren können (es gab und gibt unzählige solcher Fälle). Dann musst Du auf Deine Identität verzichten und Dich assimilieren. Das ist nichts anderes als Selbstvernichtung. Sprache ist Identität. Sie ist der Existenzraum eines jeden. Wenn all dies nicht existiert, kann es nichts geben. Jedes Fleckchen Erde Kurdistans birgt das Blut der Kurden, die für Freiheit gekämpft haben. Darum lässt sich an jeder Tür eine Geschichte erzählen von Märtyrern, vom Freiheitskampf, von Zeugen, von Opfern…


Wie können wir uns die Übergriffe auf die Menschen vorstellen? Gab es Folter?

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Vor 20 Jahren fuhren vom Staat angeheuerte zivil gekleidete Mörderteams in weißen Renaults umher und liquidierten die Menschen, auf die sie es abgesehen hatten, auf offener Straße, zu Hause oder an abgelegenen Orten. Heute morden sie mit oder ohne Uniform in aller Öffentlichkeit. In den letzten vier Jahren wurden in Kurdistan etliche Jahrtausende alte Städte, die zum Weltkulturerbe zählen, mit Panzern, Mörsern und Baugeräten zerstört. In den Städten wurden wir Zeugen von monatelang währenden Kämpfen und haben mit ansehen müssen, wie die Staatsgewalt schweres Geschütz wie Panzer und Mörser auffuhr, deren Einsatz in zivilen Siedlungsgebieten verboten ist. Das ist das Vorgehen eines NATO-Mitgliedslands und die Waffen stammten aus Waffenlieferungen demokratischer westlicher Staaten. 2015 und 2016 wurden bei diesem, unter dem Schutzmantel "Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit" geführten Krieg historische Kulturgüter in Sur, in der Altstadt von Diyarbakır, in Cizre, Nusaybin, Şırnak und in vielen anderen Städten zerstört. Es waren Bauwerke und Kulturschätze, welche die Geschichte der Kurden aus früheren Zeiten bis in die Gegenwart hinein dokumentierten. Und sie galten nicht nur als Kulturerbe der Kurden, sondern auch der Armenier, Aramäer und vieler anderer Völker. Durch den Bau von Staudämmen über den Euphrat und Tigris hat der türkische Staat neben Hasankeyf zahlreiche antike Stätten überflutet und andere historische Stätten mit Panzern und Granaten vernichtet. Nach Afrin bombardieren sie nun Rojava aus der Luft und vernichten dort antike Stätten und Ruinen, die Jahrtausende überdauerten. Zuletzt wurde die antike Stadt in Hasankeyf mit Dynamit in die Luft gesprengt und mit schweren Baufahrzeugen unwiederbringlich zerstört. Die Öffentlichkeit hat darauf kaum reagiert, obwohl ein Aufschrei durch die Welt ging, als die Taliban in Afghanistan die Statuen von Bamiyan mit Dynamit in die Luft sprengten. Sogar die Türkei verurteilte diese Handlungen damals. Bei den Zerstörungen in Kurdistan wurde dagegen leider weggesehen und weggehört.

Folter gab es routinemäßig in allen Phasen. Selbst wenn sich die Foltermethoden änderten, haben Kurden unvorstellbare Arten von Folter erlitten. Es gab auch Phasen, in denen Hinrichtungen ohne Folter an der Tagesordnung waren.

2016 versuchten Zivilisten in ein Viertel in Cizre zu gelangen, wo eine Ausgangssperre verhängt worden war. Dabei wurden sie von Polizeikräften und Militär angegriffen und suchten, teils verletzt, Schutz in den Kellern zweier Häuser. Während noch Minister und kurdische Abgeordnete miteinander verhandelten, wie die Verletzten mit Krankenwagen abtransportiert und Zivilisten aus dem Viertel herausgebracht werden sollten, wurden Dutzende Zivilisten in diesen Kellern auf Befehl von oben beschossen, verbrannt und getötet. Nach diesem Massaker wurden die verkohlten Überreste in Müllbeutel gepackt und den Opferfamilien übergeben. Sie sagten: "Hier, das ist Ihr Kind, Ihr Mann“ oder "Ihr Bruder". Wie kann das Böse und das Finstere so normalisiert und der Menschheit so präsentiert werden! Bei diesen Gräueln haben alle zugesehen. Ich glaube, das ist die dunkle Linie, an der die moderne Welt angekommen ist. Die Menschheit hat so einiges eingebüßt…


Was heißt es Kurdisch zu sein?

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Kurdisch zu sein bedeutet vertrauenswürdig zu sein, großzügig, aufopferungsvoll und hartnäckig.


Was bedeutet es, eine kurdische Frau und Schriftstellerin zu sein?

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Ich habe jahrelang in einer verbotenen Sprache geschrieben. In meiner Muttersprache zu lesen und zu schreiben, lernte ich erst später. In meiner Schulzeit war es Pflicht Türkisch zu sprechen. Es ist nicht leicht, Angehörige und Schriftstellerin eines Volkes zu sein, das über ein Gebiet verfügt, aber kein Anrecht auf einen Staat und auf seine eigene Kultur hat. Ich kenne Menschen, die jahrelang Kurdisch schrieben und dann nach Hausrazzien alles verbrannt oder weggeschmissen haben. Es ist ein schmaler Grat zwischen Assimilation und Vernichtung einerseits und dem Willen, dagegen anzukämpfen und standzuhalten andererseits. Und solange dieser Kampf in einem faschistischen System ausgetragen wird, werden Sie entweder Ihr Leben lassen müssen oder ins Exil gehen oder aber viele Jahre hinter Gittern sitzen. Ist es nicht furchtbar? In der eigenen Heimat die eigene Sprache nicht sprechen zu dürfen und zu wissen, dass man einiges zu verlieren hat, wenn man es doch tut, oder zumindest befürchten muss, dass die eigenen Kinder dabei zu Schaden kommen können und es lebensgefährlich wäre.

Natürlich hat der Überfall, den ich wie durch ein Wunder überlebt habe, mich schwer traumatisiert. Ich habe Gedichte geschrieben, um dagegen anzukämpfen. Ich glaubte an die heilende Wirkung des Schreibens. Schreiben war für mich wie ein winziges Lichtlein auf einem finsteren Pfad. 1997 begann ich, zu schreiben und seit 1999 schreibe ich in Kurdisch. Dass ich eine Frau bin, ist dabei kein Vorteil - es war immer ein Nachteil. Kurdin, Autorin und noch dazu Rebellin zu sein, macht einem das Leben nicht gerade einfach. Ich streite mich nachts mit Gott. Ich kann mich keiner Herrschaft unterordnen. So wie ich diktatorische Systeme immer abgelehnt habe, lehne ich auch die männliche Dominanz ab. Sicher hat jede Ablehnung innerhalb der gegenwärtigen Weltordnung schlimme Folgen für einen selbst. Denn heutzutage sind alle Alleinherrscher männlich, alle Religionsbücher stammen aus der Feder von Männern und nicht zuletzt sind alle Staaten männlich.


Diyarbakır ist die inoffizielle Hauptstadt der Kurden. Wie fühlt es sich an, offiziell nicht zu existieren?

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Diyarbakır hieß früher Amed. Für die Kurden ist sie noch immer ihre Hauptstadt wie in früheren Zeiten. Aktuell ist es so, dass uns nicht nur alles geraubt wurde. Schlimmer noch: Man hat leider Nester auf unsere Nester gebaut. Als wir klein waren, ermahnte meine Großmutter uns, Vogelnester nicht anzufassen, weil die Vögel den Geruch von Menschen riechen und dem Nest fernbleiben würden. Unsere Nester hat man mit blutigen Händen angefasst. Doch wird diesen Barbaren noch weniger von dem zuteilwerden, was von unseren Nestern übriggeblieben ist. Ein Sprichwort besagt: "Auf ein zerstörtes Nest kann man kein neues Nest bauen". Die Besatzer trachten danach, ihre Nester auf unsere Nester zu bauen, aber sie werden sich dort nicht einnisten können! Amed beherbergt die rebellische Seele der Kurden gegen das Unrecht. Eines Tages wird die Wahrheit in den Herzen der Kurden seinen Platz einnehmen.


Was bedeutet Sprache für Dich?

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Sprache ist für mich die Wiege meiner Existenz. Alles, was mir an Kulturellem überliefert wurde, meine Identität..


Wie ist es in einer Sprache zu träumen, die bis vor kurzem verboten war?

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Selbst wenn sie nicht mehr verboten ist, ist sie mit enormen Restriktionen belegt! Aber keine Gewalt ist imstande, in die Muttersprache und in die Innenwelt eines Menschen einzudringen. Auf Träume kann niemand schießen. Träume kann man nicht foltern. Niemand kann mich daran hindern, in meiner Vorstellung, in meinem Kopf und Herzen Kurdisch zu denken und zu fühlen. Hätte man mich jemals daran gehindert, hätte ich nicht seit mehr als 20 Jahren in meiner Muttersprache schreiben können. Ich war Herausgeberin einer kurdischsprachigen Zeitung. Nur weil ich in Kurdisch berichtet habe, erhielt ich Drohungen, saß in Untersuchungshaft und wurde gefoltert. Trotz allem hielt ich an meiner Muttersprache fest. Ich habe bislang sieben Bücher veröffentlicht, Artikel, Beiträge, Essays und Gedichte in Zeitungen und Zeitschriften verfasst - alles in Kurdisch. Und ich werde bis an mein Lebensende in meiner Muttersprache schreiben, obwohl mein Türkisch sehr gut ist. Türkisch wollte ich nicht lernen. Die Sprache wurde mir aufgezwungen. In der Schule wurden wir erniedrigt. Immer und überall haben wir uns bemüht, Türkisch zu sprechen, damit man nicht auf uns herabsah. All das hat uns tief traumatisiert. Früher habe ich versucht, Englisch zu lernen. Jetzt versuche ich, Deutsch zu lernen. Anscheinend ist mein Kontrollmechanismus defekt und hindert mich, andere Sprachen zu erlernen. Ich schaffe es nicht.

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Warum schreibst du?

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Ich schreibe, um nicht verrückt zu werden, denn das Leben hat in mir seelisch wie körperlich tiefe unheilbare Wunden aufgerissen. Früher trug ich nachts Gott laut meine Gedichte vor - in der Annahme, dass er mich hören würde. Meine Eltern dachten, ich wäre verrückt geworden, weil ich mit mir selbst redete. Später las ich ihnen und anderen in meinem Umfeld aus meinen Gedichten. Das Schreiben hat mir eine unendlich weite Phantasiewelt eröffnet, vielleicht schreibe ich deshalb.


Schreibst du von Beginn an auf Kurdisch?

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In meiner Schulzeit schrieb ich Gedichte in Türkisch als ich noch nicht Kurdisch lesen und schreiben konnte. Ich konnte nur sprechen. Ich bin mit mythologischen Erzählungen groß geworden, die meine Großmutter mir erzählte. Und ich hatte eine recht bunte Familie. Mein Großvater rezitierte "Kilams"* in Kurdisch und meine Großmutter erzählte mir jede Nacht Geschichten. Darin kam alles Wesentliche über Kurden vor: ihre Lebensweise, ihre Klagelieder, ihre Hochzeitsriten. So konnte ich nicht mehr in einer anderen Sprache träumen. Seit ich gelernt habe, Kurdisch zu schreiben, kann ich mich nicht mehr erinnern, wie meine türkische Gefühlswelt aussah. Noch bevor ich überhaupt Kurdisch schreiben lernte, schimpfte und stritt ich auf Kurdisch, weil ich dieses Bedürfnis spürte. Bis auf die türkischsprachigen Gedichte in meiner Schulzeit habe bzw. konnte ich nie wieder Gedichte in türkischer Sprache schreiben. Nachdem ich in meiner Muttersprache zu schreiben begann, blieb meine Feder dem Kurdischen immer treu.


Du warst sehr jung, als du die kurdische Zeitung und Wochenzeitschrift mitbegründet hast. Was trieb dich an, auch journalistisch tätig zu werden?

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Nach dem Überfall in unserem Haus wurden die Täter natürlich nicht gefasst. Ähnliche Übergriffe, die noch blutiger ausgingen als bei uns, waren an der Tagesordnung. Nur wenige hatten wie wir das Glück, verletzt davon zu kommen. Wir haben nach einer längeren Behandlung "in der Hinterstube" versucht, zu genesen, ohne ins Krankenhaus zu gehen, was mit vielen schmerzvollen Erfahrungen verbunden war. Denn als wir am Morgen nach dem Übergriff ins Krankenhaus gebracht wurden, hatte ich gehört, wie die Polizisten ins Zimmer kamen und sagten: "Lasst die Kinder sterben". Meine Augen waren geschlossen, aber ich war bei Bewusstsein und konnte alles mithören. Da ich später innere Blutungen hatte, war ein invasiver Eingriff unter meiner linken Achsel erforderlich. Bei diesem Eingriff hörte ich, wie eine Krankenschwester auf den Arzt einredete: "Bitte Herr Doktor, das sind doch noch Kinder", worauf dieser erwiderte: "Sei still, Frau!". Das hielt uns später von weiteren Krankenhausbesuchen ab. Als es mir wieder etwas besser ging, beendete ich erst die Sekundarschule und bewarb mich für ein Journalisten-Programm. 1997 nahm ich schließlich offiziell meine Tätigkeit bei einer Zeitung auf und arbeitete dort bis 2003. Wahrscheinlich wollte ich Journalistin werden, weil ich das Böse, das Unrecht und die Lügen aufdecken wollte. Über die Medien, dieser vierten Gewalt, wollte ich der Welt die unmenschlichen Praktiken vor Augen führen.


1991 wurde das Publikationsverbot seitens der Türkei aufgehoben.

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In der Türkei stehen die Gesetze nur in Büchern geschrieben. Im wirklichen Leben wendet man sie nie an. Es gab -und gibt noch immer- so viele Verbote, dass die Kurden, sobald eine Zeitung geschlossen wurde, sogleich unbeirrt eine neue gründeten. Sie haben so viele unserer kurdischsprachigen Zeitungen und Bücher konfisziert. 2003 beschloss ich, bei der Zeitung aufzuhören, um nur noch als Autorin zu arbeiten. Doch in Kurdistan wie in der Türkei waren die Kurden weder organisiert noch wussten sie voneinander. Ich gründete mit sechs Autorenkollegen zusammen den Verein Kurdischer Schriftsteller. Ich war die Gründerin des Vereins und übernahm 2017 zuletzt auch den Vereinsvorsitz. 13 Jahre lang galt unser Verein als Sammelbecken für kurdische Autoren. Wir organisierten Konferenzen, Symposien, Buchmessen und -festivals, bis unser Verein vor drei Jahren per Dekret von Erdoğan geschlossen und sein ganzes Inventar beschlagnahmt wurde. Vereinsmitglieder, die zugleich als Lehrer arbeiteten, kamen in Untersuchungshaft. Beamte wurden suspendiert. Der Staat handelte rechtswidrig. Die Menschen wurden zu Geiseln der Macht und die Macht wurde missbraucht, um all jene, die anders waren, zu vernichten. Daher wäre es allzu komisch, zu behaupten, die Türkei sei ein demokratisches Land.

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Warum bist du so lange in der Türkei geblieben?

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In Kurdistan, meiner Jahrtausende alten Heimat, war ich zu Hause. Wie Zehntausende andere musste auch ich aus meiner Heimatstadt, wo der Tod allgegenwärtig war, fliehen. Ich lebte dann fernab in einer ruhigeren Stadt, um überleben zu können, nachdem ich bereits den mir zugedachten Teil des Grauens geschultert hatte. An eine Rückkehr in unser Heim war lange nicht zu denken. Ich schrieb Gedichte über unser Haus, fühlte mich in einer tiefen Leere. Schließlich beschloss ich, zurückzukehren. Ich ging nach Diyarbakır. In der ersten Zeit nach meiner Rückkehr wurde staatlich verkündet, dass ein Friedensprozess mit den Kurden angebahnt und die Kurdenfrage gelöst würde. Die Menschen kamen allmählich zur Ruhe, aber um die soziale und wirtschaftliche Situation stand es schlecht. So nahm ich mein Leben in Diyarbakır auf. Ich reiste zeitweilig ins Ausland und aus der Entfernung wurde mir klar, dass uns immer etwas fehlte. Unsere Kinder konnten ihre Muttersprache nicht, uns wurde eine Kultur aufoktroyiert, die nicht unsere eigene war und ich sah, wie wir auf ein anderes Unglück zusteuerten. Und noch viel Schlimmeres. Dennoch habe ich weitergekämpft, bis ich vor drei Jahren mit ansehen musste, wie kurdische Kinder vor meinen Augen getötet, wie die verkohlten Knochen der in den Kellern verbrannten Menschen ihren Familien übergeben wurden. Und als ich meine eigene in Schutt und Asche liegende Stadt sah, tat ich das, was eine Schriftstellerin tun muss. Ich nannte den Diktator einen Diktator. Und wieder musste ich wegen meiner Reden, Schriften und Interviews mein Heim verlassen. Jetzt lebe ich in Berlin. Doch meine Füße sind mit diesem Boden nicht vertraut. Ich falle ständig ins Leere.


Dein letzter Roman handelte vom Krieg. Welches Thema behandelt dein aktuelles Skript?

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Meinen letzten Roman habe ich während meines Exils veröffentlicht. Es ist die Geschichte eines kurdischen Mädchens, das vom IS entführt wird. Die Handlung ist eng verwoben mit den Gräueltaten des IS während des Angriffs auf Schengal und den auf Märkten zum Verkauf angebotenen kurdischen Frauen. Das, was geschehen ist, darf die Welt nicht vergessen. Tagelang habe ich mir immer wieder einige Fotos angeschaut, während meine Seele abermals einen Tod starb und wieder erwachte, um mich den inneren Zorn spüren zu lassen. Ich musste schreiben. Und ich schrieb, während ich litt, während ich weinte. Diesen Roman habe ich aus der Sicht Şemsixans, meiner Protagonistin, geschrieben.

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Wie siehst du Diyarbakir von Berlin aus?

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Auch Berlin ist eine verwundete Stadt. Wenn ich durch die Straßen laufe und hin und wieder Ruinen alter Bauwerke oder zerstörte Kirchen aus dem Krieg sehe, denke ich, dass die Stadt genauso wie ich noch aus ihren Wunden blutet. So fühle ich mich von der Herzenswärme dieser Stadt umhüllt und beschützt. Wenn ich von Berlin aus nach Kurdistan blicke, sehe ich meine Kindheit, wie ein Waisenkind - verloren und unbeschützt irgendwo vor einer Tür sitzen.


Wohin von hier?

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Ich möchte nur zurück in mein Zuhause. Ich möchte nie wieder Blut und Mord sehen müssen. Das wäre wohl ein "normales Leben". Ich möchte -wie alle- ganz banale Dinge tun. Wenn ich morgens aufwache, möchte ich nicht mehr fragen, ob irgendein Ort bombardiert wurde, ob Kinder zu Schaden gekommen sind. Auf ein Morgen ohne solche Gedanken…

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